Die Geschichte von Aschenputtel offenbahrt mehr, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Wer sich in die Lage des kleinen, unscheinbaren Mädchens hineinversetzen kann, der oder die wird ihren Schmerz nachfühlen können. Es lohnt sich allerdings, die Aufmerksamkeit auf den Ausgang der Geschichte zu lenken. 

 

Die Taktik der Ausgestoßenen

Aschenputtel (Aschenbrödel) ist viele Jahre lang beinahe unsichtbar. Es erträgt alles und wenn es sich wehrt, dann geschehen regelmäßig Dinge, die beweisen, dass es im Unrecht ist. Aschenputtel verbringt die meiste Zeit allein. Mit seiner Arbeit – und mit den Tieren.

Im Märchen sucht Aschenbrödel immer wieder das Grab seiner Mutter auf, auf dem es einen Haselstrauch gepflanzt hat. Dieser Haselstrauch ist Anziehungspunkt für Vögel. Es sind vor allem die Tauben, die die Freunde von Aschenputtel werden.

Die Stiefmutter und die Schwestern(Im Film oben ist es nur eine Schwester) machen dem Aschenbrödel das Leben schwer. Es kämpft aber nicht um seine Anerkennung. Lieber zieht es sich in seine Parallelwelt zurück. Am häufigsten hält es sich in der Küche auf, die die Schwestern sowieso nicht interessiert. Im Haus erledigt es die niedrigen Arbeiten, wird nicht gesehen oder beachtet.

Die Auswirkungen von fehlender Wertschätzung

Mit der Zeit wird Aschenputtel grau und unscheinbar. Nicht nur durch die Asche, von der es jeden Tag umgeben ist, sondern vor allem durch die fehlende Wertschätzung. Aschenputtel lernt nicht, dass es einen Wert besitzt. Im Gegenteil, es fühlt, dass es abgeschoben und unwichtig ist, zu nichts nütze. Es tut, was die andern von ihm verlangen und zieht sich so schnell wie möglich wieder in seine Küche zurück, wo es auch schläft. In seiner Freizeit besucht es das Grab seiner Mutter und die Vögel.

So könnte die Geschichte des Aschenputtels unerzählt bleiben und niemand hätte von ihm erfahren. Um das Sichtbar Werden des Mädchens geht es im Märchen. Aschenputtel erfährt durch Zufälle vom Fest beim Prinzen. Trotz aller Widrigkeiten, die ihm in den Weg gelegt werden, damit es nicht auf das Fest gehen kann, gelingt es ihm mit Hilfe der Vögel und der belebten Natur doch.

Aschenputtel als schöne Prinzessin

Als schönes und unbekanntes Mädchen kommt Aschenputtel auf den Ball. Niemand erkennt oder kennt sie. Da ist einmal die Verwandlung durch ihr Äußeres, die Kleider, Schmuck, ihre Anreise zum Ball. Auf der anderen Seite wissen die meisten Menschen gar nicht, dass es sie überhaupt gibt. Fast niemand weiß von ihrer Existenz im Hinterhof und der Küche eines bekannten Hauses.

Aschenbrödel wird für wenige Stunden sichtbar und glänzt durch alles, was sie ist und ausstrahlt. Sie selbst hat die Initiative ergriffen und es geschafft, zum Ball des Prinzen zu gelangen. Sie wird erkannt als reines, unschuldiges und wunderschönes Wesen und der Prinz verliebt sich unsterblich in sie.

Die Einzigartigkeit des Aschenputtel

Doch zu Mitternacht ist alles wieder vorbei und Aschenputtel kehrt an ihren angestammten Platz im Haus zurück. Niemand ahnt etwas von ihrem Ausflug in eine Welt, in der sich sich zeigen musste und es auch konnte. Doch auch ihre Helfer aus der Anderswelt scheinen sie wieder in ihre missliche, unscheinbare Lage am Küchenherd zurück schicken zu wollen.

Dreimal – wie es in Märchen so üblich ist – darf Aschenputtel diese wundersame Verwandlung an sich selbst erfahren. Doch auch beim dritten Mal muss sie wieder zurück zur Asche, an den Herd. Diesmal aber ist etwas (in diesem Fall ihr Schuh) zurückgeblieben, das unverwechselbar für sie ist. Keinem anderen Mädchen passt der Schuh und ein verliebter Prinz begibt sich auf den Weg, seine „Prinzessin“ zu suchen.

Wieder helfen die Vögel dem Aschenputtel, damit auch noch die letzten Betrügereien erkannt und aus dem Weg geräumt werden. Einem guten Ende, bei dem das Aschenputtel zur glücklichen Prinzessin wird, steht nichts mehr im Weg.

Die Chance ergreifen, wenn die Zeit reif ist

Aschenputtel hat richtig gehandelt: Solange die Lage aussichtslos ist – also viele Jahre ihrer Kindheit – ergibt sie sich in ihr Schicksal der abgelehnten und aus den Blicken der Familie entfernten Tochter. Sie tut, was man von ihr verlangt und wird nach außen hin immer unscheinbarer. In ihrem Kern aber bleibt das Mädchen das, was sie immer war: ein unschuldiges, wertvolles Wesen, das zu glänzen vermag.

Das verwahrloste Aschenputtel ergreift seine Chance erst, als es hinausgezogen wird: zum Ball des Prinzen. Ihre Familie hilft ihr nicht dabei, diesen Wunsch zu erfüllen, sondern legt ihr im Gegenteil noch Steine in den Weg (Sie muss einen Topf Linsen aus der Asche auslesen). Doch die Vögel und die geistige Welt helfen ihr plötzlich, als sie sich bemüht, auszubrechen.

Transformation und Heilung

Der Übergang vom unscheinbaren und wertlosen Aschenputtel zur strahlenden Prinzessin kann nicht an einem Tag gelingen. Aschenputtel muss mehrere Male wieder zurück in ihre alte Welt. So eine Transformation benötigt einfach Zeit. Wenn es das Aschenputtel damals wirklich gegeben hätte, hätte es wohl viele Jahre lang an einem Trauma leiden müssen, bis es seine schädlichen Kindheitserinnerungen ablegen hätte können.

Ich fühle mit Aschenputtel mit. Ich kann es verstehen und nachfühlen. Wie oft muss es als Prinzessin Zweifel beschlichen haben, ob es nicht doch plötzlich wieder zurück in ihre (bekannte aber schädigende) Welt müsse. Von heute auf morgen kommt man nicht aus dieser Nummer, die einem auferlegt wurde, heraus. Im Märchen wird das durch dreimaliges Zurückkehren angedeutet. In Wahrheit kann es viel öfter der Fall sein.

Aber ganz egal wie oft es an den Herd, in die demütigende Situation zurückkehren musste, war es doch niemals ein echter Rückschlag für Aschenputtel. Aschenputtel erkannte die Hilfe der geistigen Welt spätestens beim dritten Mal als etwas, auf das es sich verlassen konnte. Am Ende war es eine Mischung aus Eigeninitiative, Hilfe aus der Anderswelt und glücklichen „Zufällen“, die das misshandelte Aschenputtel wieder zurück ins Leben brachten. Und es wartete nicht irgendein Leben auf sie. Es war ein Leben in Glück und Zufriedenheit.

Zusammenarbeit

 

Das könnte dich auch interessieren: Missbrauch – die Geschichte von Marie

 

Facebook