Eine Mutter besucht ihre Tochter. Die beiden beschließen, gemeinsam spazieren zu gehen. Sie fahren mit der Schnellbahn in einen kleinen “Stadtwald”. Schon beim Aussteigen aus der S-Bahn wird bald klar, dass das kleine Wäldchen wirklich sehr klein ist. Das ist die Ausgangssituation. Was die Mutter draus macht, kann unterschiedlich sein.

Erste Möglichkeit des Spazieren Gehens:

Die Mutter denkt: “Das Wichtigste ist, das ich mit meiner Tochter spazieren gehen kann. Ich habe sie schon so lange nicht mehr gesehen und bin auch nur noch kurze Zeit in ihrer Stadt zu Besuch. Dann muss ich wieder zurück nach Hause. Und ich wohne so weit weg. Die Zeit vergeht so schnell! Gleich wird der Spaziergang vorbei sein. ”  So legt sich eine Melancholie zwischen die Beiden.

“Ich muss meine Tochter noch nach ihren Plänen fragen”, denkt die Mutter weiter. “Am Telefon oder mit Email geht das so schlecht. Und ich bin doch ihre Mutter und habe ein Recht darauf, nein sogar die Pflicht, mich um meine Tochter zu kümmern. Wenn sie nicht immer so verschlossen und abwehrend wäre! Ich meine es doch nur gut mit ihr!”

Zur Melancholie gesellt sich ein leichter Ärger. Es war noch nie einfach mit ihr! “Warum ist sie nur so verschlossen, mir gegenüber? Hat sie was zu verbergen? Wenn ich sie mir so ansehe, sie sieht so blass aus. Was sie wohl für einen Lebenswandel hat? Wie oft sie ihre Freunde wechselt….”

Jetzt kommt Mitleid auf, aber auch Neugier, ob es vielleicht einen neuen Freund gäbe. Aber klar, die Tochter antwortet ausweichend. Deshalb beginnt die Mutter, sich selbst anzuklagen: “Meine Tochter vertraut mir wohl nicht…was habe ich bei ihrer Erziehung nur falsch gemacht? Wir haben uns so sehr auseinander gelebt…es ist schon traurig….”

Die Gedanken lassen sich nicht mehr stoppen

“Ein komischer Park ist das. So klein. Von überall sieht man die Straße und die vorbeifahrenden Autos. Was für eine schlechte Luft ist da in dieser Stadt, in der meine Tochter lebt! Ausgerechnet diese Stadt musste sie sich aussuchen! So weit weg von uns! Wie schön konnte sie es haben, aber nein, diese Stadt, wo es nur so kleine Parks gibt, musste sie sich aussuchen…”

Der Spaziergang ist vorüber. Die beiden sind wieder bei der Schnellbahnhaltestelle angekommen.

Zweite Möglichkeit des Spazieren Gehens:

Tochter: ” Schau Mami, dort vorne ist der Königswald”.
Mutter: ” Haha, Königswald. Ob wir den König treffen werden?”

Die beiden spazieren einen kleinen, sehr schmalen Weg entlang. Eine Frau kommt ihnen entgegen, die beiden grüßen und drücken sich an ihr vorbei. Der Frau folgt, mit etwas Abstand, ein brauner, großer Hund. Der Hund stutzt kurz und fragt sich wohl, wie er da vorbeikommt. Er kommt naher, zögert, bleibt kurz stehen und schießt plötzlich mit angelegten Ohren und eingezogenem Schwanz an Mutter und Tochter vorbei. Die beiden lachen und gehen weiter.

Mutter:” Hahaha, da vorne ist ja schon wieder die Straße zu sehen”. Sie beobachten die in der Ferne sichtbaren Autos, als sie auf einen größeren Weg kommen. Nach einem Richtungswechsel lachen sie über die Straße und die Autos, die auf der anderen Seite wieder vor ihnen auftauchen. Hahaha! Hier gibt es wohl kein Wild, das der König im Königswald jagen konnte, oder? Nur Autos an jedem Ende des Waldes. Die beiden lachen ein wenig und gehen weiter.

Spazieren im Hier und Jetzt

Nach einiger Zeit tritt die Tochter auf ein Holzstöckchen:” Ich liebe dieses Knackgeräusch…”
Mutter: “warte, das versuche ich auch”.

Bald gehen die beiden auf Holzstöckchen tretend und knackend – und kichernd – durch den Wald, Richtung Straße. Kein Kunststück, weil überall ist “Richtung Straße”, hahaha! Plötzlich knackt es von links ganz heftig: ein Reiter taucht auf, dahinter noch einer und noch einer und noch viele.

“Der König, der König kommt mit seinem Gefolge geritten! Haben wir ein Glück!”, rufen Mutter und Tochter. Und wirklich: auf den Satteldecken der Pferde ist groß und deutlich ein gesticktes “K” zu sehen. Mutter und Tochter freuen sich wie die Schneekönige und winken den Reitern zu. Die Reiter winken freundlich und hoheitlich zurück. Dann sind sie vorbei. Die beiden Frauen bleiben lachend zurück. “Sie waren es wirklich – der König ist mit seinem Gefolge durch den Königswald geritten!

Sehen, fühlen, hören…wahrnehmen, was da ist

Jetzt bemerkt eine der Beiden kniehohe Pflanzen am Wegrand, die voll mit prall gefüllten Samenkapseln sind. Wenn man diese Samenkapseln berührt, dann, Klicks, haha, springen sie auf und kitzeln dabei die Finger. Von dem Schauer ganz zu schweigen, der den Berühreinnen der Kapseln über den Rücken läuft! Ein tolles Spiel! Die Kapseln sehen aufgesprungen wie
Würmer oder Raupen aus…Klicks, Klicks, klicks, hahaha!

Schon sind Mutter und Tochter gemeinsam in diese wundervolle Spiel vertieft und rufen sich zu, wo es noch reife, pralle, zum heftigen Platzen bereite Samenkapseln gibt. Klicks, klicks, klicks, haha. Sie kommen ein wenig vom Weg ab und finden eine Betonkonstruktion, die schon ganz mit Pflanzen überwuchert ist. Sie mutmaßen, dass das ein Überbleibsel aus dem zweiten Weltkrieg sei und gehen weiter, wieder zurück auf den Weg, der leicht zu finden ist.

Die Pflanzen mit den Samenkapseln, die so viel Spaß bereiten, wenn sie zerplatzen, werden weniger, aber es macht den beiden nichts aus, sie haben sich schon “ausgeklickst”. Fröhlich plaudernd ziehen die beiden weiter, Richtung Straße, versteht sich. Das Thema sind die Herbstblätter, die am Boden liegen. Manche von ihnen haben Punkte und manche nicht. Jetzt geht es wieder über den schmalen Waldweg zurück, wo der erschreckte Hund vor nicht allzu langer Zeit panisch an ihnen vorbei gelaufen war.

Phantasie und Humor findet im Hier und Jetzt statt

Die Tochter sucht noch immer den Waldboden nach Blättern mit Punkten ab. Plötzlich fällt ihr auf:”Diese Blätter hier sehen aus wie Lippen!” Sie hebt eines auf und hält es sich über ihren Mund. Die Mutter lacht schallend auf, es sieht zu komisch aus! Dann sucht sie sich ihre “eigenen” Lippen am Waldboden und hält sie sich über ihren Mund. Die Tochter lacht auf und holt ihr Handy heraus, um ein Foto zu machen. Jede macht von der anderen ein Foto, dann machen sie noch eines gemeinsam von sich zusammen.

Was für ein Spaß! Beide Frauen stecken sich mit Lachen an, halten immer wieder die “Blattlippen” vor die eigenen, echten Lippen und suchen gemeinsam immer noch bessere Lippen. Dabei finden sie auch Blätter, die als Augenbrauen, Nasenverschönerung oder als Ohrringe ihren Siegeszug antreten könnten. Mutter und Tochter schütteln sich vor Lachen, können sich kaum noch einbremsen. Sie stecken die besten Blätter ein und nehmen sie mit. Lachend geht es weiter zur Schnellbahnhaltestelle. Einige Leute drehen sich nach ihnen um, müssen lächeln. Die Lebensfreude der beiden ist ansteckend. An der Haltestelle Königswald darf heute gelacht werden.

Ein Monat später:

Eine Bekannte, die das Foto mit den Blattlippen im Internet gefunden hat, sucht beim Spazieren Gehen selbst passende Herbstblätter als künstliche Lippen, um sich damit fotografieren zu lassen und andere Menschen zum Lachen zu bringen.

Zusammenarbeit

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