Wie leicht man in falsche Erwartungen, Missbrauch und Abhängigkeit rutschen kann und warum das Verlassen der toxischen Quelle die einzige Möglichkeit zur Heilung ist. Es findet sich immer ein Weg und alles ist weniger schädigend, als Missbrauch zu dulden.

Die Geschichte von Marie und ihrem Mann

Für Maries Ehemann sind Liebe und Zärtlichkeit eine Bedingung, sagt er. Er selbst hat allerdings keine Zeit für Zärtlichkeiten. Im besten Fall lässt er sie über sich ergehen, wie ein Teddybär. Meistens werden aber solche Situationen gemieden.

In der Früh schläft Maries Mann so lange er kann, ohne sich von dargebotenen Zärtlichkeiten animieren zu lassen. Vielleicht brummt er sogar ungehalten, wenn all ihr Streicheln und die sanften Versuche, ihn zu wecken, zu heftig ausfallen. Wenn für ihn die Zeit zum Aufstehen gekommen ist, springt er plötzlich aus dem Bett, geht ins Badezimmer, zieht sich an und verlässt das Schlafzimmer.

So war es immer, seit Beginn ihrer Beziehung. In ihrer ersten gemeinsam verbrachten Nacht verließ er sie im Morgengrauen, als sie noch schlief. Eineinhalb Jahre später, auf der Hochzeitsreise, hatte sich sein Verhalten nicht geändert und Marie – schwanger und voller Hoffnung auf eine zärtliche, gemeinsame Zeit – musste sich enttäuscht damit abfinden, dass alles andere wichtiger und interessanter war, als ihr Beisammen Sein.

Das änderte sich in ihrer langen Ehe niemals, auch wenn Marie sich sehnlichst etwas anderes wünschte. Indem sie dieses Verhalten akzeptierte, öffnete sie dem Missbrauch Tür und Tor.

Marie hat sich selbst vergessen

Über die vielen Jahre in dieser Ehe verlor Marie immer mehr an Lebensenergie. Traurigkeit machte sich breit, überdeckt von immer wieder neu auftretenden Problemen in der Familie, die von ihr gelöst werden wollten. Marie vergaß sich selbst, nahm sich nicht mehr wahr. Von ihrem Ehemann erwartete sie, dass er sie bemerkte und sie bemerkte sich doch selbst nicht mehr. Sie sah sich nicht mehr. Sie fühlte sich nicht mehr. Und sie hörte sich selbst nicht zu. Sie wusste auch nichts über emotionalen Missbrauch.

Maries Ehemann bemerkte sie nicht und sie selbst ging nicht anders mit sich um. Wer, in aller Welt, hätte ihr Liebe und Anerkennung geben können? Ihre Kinder waren noch viel zu klein. Sie benötigten die Liebe Maries noch viel mehr als Marie selbst, denn die Kinder sollten gesund heranwachsen. Wie konnte Marie diese Liebe geben, obwohl sie selbst schon am Austrocknen war? Seltsamerweise war das möglich. Liebe lässt sich eben nicht in ein mathematisches Schema pressen. Sie kann aus dem Nichts plötzlich da sein.

Erwartungen können enttäuscht werden

Es war die nicht erfüllte Erwartung, die Marie an ihren Ehemann stellte, die sie unglücklich machte. Hätte sie nicht so große Erwartungen gehabt, hätte sie einfach ihr eigenes Ding durchgezogen und sich selbst all die Zärtlichkeiten und Liebe gegeben, die jeder Mensch benötigt. Wenn Marie sich selbst geliebt hätte, hätte sie sich wohl auch das geringschätzende Verhalten ihres Mannes nicht länger gefallen lassen. So aber zog sie sich zurück und wurde immer einsamer.

Vom Kopf her war es für Marie schwierig zu verstehen, was der Grund war, dass sie sich immer wertloser und unwichtiger fühlte. Sie erkannte, dass sie nicht zufrieden und glücklich war, konnte aber nicht benennen, warum. Ja, sie dachte, dass sie ungerechtfertigter Weise unzufrieden war und bemühte sich, ihren Super – Ehemann dazu zu bringen, seine Super – Eigenschaften auch zu zeigen.

Außer geringfügigen Teilerfolgen erreichte sie nichts. Ihr Bewusstsein war nach Außen gerichtet, auf die Ehe, auf die Familie. Sie selbst hatte sich schon längst abgewertet und vergessen. Sie konnte sich nicht mehr vorstellen, dass es auch ein anderes Leben geben könnte. Ein Leben, in dem sie selbst die Hauptrolle spielte und Regie führte. So ein Gedanke kam gar nicht auf oder sie verwarf ihn als „zu egoistisch”.

Missbrauch ertragen heißt dem Leben entsagen

Marie empfand es als ihre Aufgabe, die bröckelnde Liebesbeziehung immer wieder zu stützen, Risse zu kitten und zu übermalen. Die tiefe Traurigkeit in ihr verdrängte sie. Sie weinte viel, aber ihr Mann bemerkte es nicht, sogar wenn sie nebeneinander im Bett lagen. Sie war unsichtbar geworden. Wenn sie weinte, schlief er schon. Das Wichtigste war für Marie, dass es der Familie gut ging. Sie verstand sich selbst nicht, wenn sie verzweifelt war und wieder einmal alles an ihr hing. Dann musste sie aktiv sein und konnte die aufsteigenden Gefühle nicht zulassen. Sie hätten sie gelähmt und vollkommen unnütz werden lassen.

Marie benötigte viele Jahre, um zu bemerken, dass ihre Traurigkeit nur der Überbegriff für viele andere Gefühle war. Alle diese Gefühle waren dadurch entstanden, dass sie meinte, von einem anderen Menschen abhängig zu sein. Ihr Mann war der einzige, der ihr Liebe, Wertschätzung, Zärtlichkeit und Anerkennung hätte geben können, dachte sie. Er war es auch, der sie finanziell erhielt und es ihr ermöglichte, dass sie sich um die wachsende Familie, Haus, Tiere und Garten kümmern konnte. Ohne ihn wäre gar nichts von dem möglich gewesen, was Marie auch geboten wurde: Haushaltshilfe, Urlaube, Reisen.

Doch eines gab es niemals: Liebe, Wertschätzung, Zärtlichkeit, Anerkennung. Ohne wenigstens gesehen oder anderweitig wahrgenommen zu werden vertrocknen wir Menschen innerlich. Marie wartete viele Jahre lang auf ein Wunder und war traurig, dass es sich nicht erfüllte. Erst als sie lernte, sich so sehr zu lieben, dass sie bereit war, eine lieblose Umgebung und den Menschen, der sie missachtete, zu verlassen, veränderte sich die Situation.

Zurück ins Heute

Es regnet. Es ist heimelig in meiner kleinen, eigenen Wohnung im Haus meines Vaters. Ich fühle mich wohl und benötige im Moment nichts anderes. Durch das geschlossene Fenster höre ich den Kuckuck rufen. Ich denke an Marie.

Der Regen plätschert leise vor sich hin, das viele Grün vor meinem Fenster ist in seinem Wachsen nicht mehr zu stoppen. Leben überall. Auch ich selbst lebe. Ich fühle das Leben in mir und bin Leben. Ich bin auch Liebe, Zärtlichkeit und Vertrauen.

Liebe leben

Nein, wir sind nicht auf Zärtlichkeit und Wertschätzung von außen angewiesen. Das ist die gute Nachricht! Wir werden vom Universum unendlich geliebt und können deshalb auch unendlich Liebe geben! Gelegenheiten dazu finden sich immer wieder – aber nur, wenn wir uns nicht davon abhalten lassen – durch zu viele Aufgaben oder den Glaubenssatz, dass man nichts zu geben hat.

Wenn wir darauf achten, mit wem wir uns tagtäglich umgeben, wachsen wir und werden stärker, fröhlicher und zuversichtlicher! Allein aufzuwachen und selbst den beginnenden Tag zu gestalten ist vollkommen in Ordnung. Mit einem Partner im Bett aufzuwachen, der entweder noch schläft oder schnell aus dem Bett springt, um keine Zuwendung geben zu müssen, ist toxisch. Ignoriert werden ist toxisch. Alles, was ein schlechtes Gefühl bereitet, ist toxisch. Wenn man dann diese Situation am liebsten verlassen würde, es aber nicht kann und der Partner das genau weiß, wird es zum Missbrauch. Marie hat genau das erkannt und die Konsequenzen gezogen.

Wir selbst haben es in der Hand, uns nicht missbrauchen zu lassen.  Es gibt nur einen Weg heraus aus Abhängigkeit und Missbrauch: Gehen. Auch wenn es unmöglich erscheint, gibt es doch immer einen Weg. Erst wenn wir weg sind aus der toxischen Umgebung, kann wirkliche Heilung stattfinden. Das Verlassen der schädigenden Quelle ist der erste Schritt zur Selbstliebe. Viele andere werden folgen und uns zu uns selbst und dem Leben zurück führen.

 

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