Tief in mir herrschen Gefühle von Melancholie und Traurigkeit, Gefühle der Ungerechtigkeit und des Verlassen Seins. Auch Unsicherheit dem Leben gegenüber, ein wenig Angst und das Gefühl des Wertlos Seins, weil ich nichts leiste.

Das Wetter draußen trägt das Seine dazu bei, dass diese Gefühle noch unangenehmer zum Vorschein kommen. Es regnet auf den blütenweißen Schnee herab – und zwar heftig und schon die ganze Nacht lang. Meine Hündin wollte heute gar nicht hinaus, um ihr Geschäftchen zu erledigen. Ich musste sie sanft dazu überreden. Sie wird natürlich auch nicht gern nass.

Bin ich neidig?

Trotzdem finde ich es angenehm, dass es nicht mehr so kalt ist. Der Nebel zieht durch das Tal und ich liebe das eigentlich. Doch heute fühle ich mich einsam und ausgestoßen von meinem Clan (meiner Familie). Ich weiß, dass mein Ex-Partner das Leben in großen Zügen genießt und mit meinem zweitjüngsten Sohn in diesem Monat auf Schiurlaub fahren wird. Ich fühle Neid in mir aufsteigen, dass ich so etwas niemals tun werde können. Abgesehen davon, dass Schifahren gar nicht meine große Leidenschaft ist, reicht schon das Gefühl, mir so einen Luxus nicht leisten zu können, um mich unwohl zu fühlen.

Gestern habe ich mich für ein „Sing dich Frei“ Seminar in der kommenden Woche angemeldet. Fünf Tage, vom Donnerstag bis Sonntag. Und auch nicht billig. Aber ich fühlte mich so sehr angezogen davon, dass ich einfach zuschlagen musste. Ich kann es leider nicht ändern, aber wenn ich viel Geld für mich ausgebe, kommen Überlebensängste auf. Ich fühle die Knappheit meiner Ressourcen und kann mir hunderte Male einreden, dass ich Freude und Überfluss empfinden „sollte“, um mehr Geld in mein Leben zu ziehen.

Herumgeweht wie ein Blatt im Wind

Die Wahrheit ist die, dass ich mich wie ein Blatt im Wind fühle. Davongetragen von meinem Baum, auf dem ich wachsen durfte und mich mit vielen anderen Blättern wohlfühlte. Teils abgestoßen, teils vom Wind davon gezerrt, liege ich die meiste Zeit am Boden herum und hoffe, dass niemand auf mich drauf trampelt. Manchmal werde ich aufgewirbelt und ein kleiner Einblick wird freigegeben, wie wunderschön die Freiheit sein könnte.

Ich bin nicht ganz allein, auch andere Blätter wirbeln mit mir herum, aber ich kenne sie nicht und kann kaum mit ihnen in Kontakt kommen, so wie ich es von meinen anderen Blättern am Mutterbaum gewohnt war. Ich habe Sehnsucht nach Nähe. Immer wieder werde ich aber davon gewirbelt. Es fühlt sich wie eine Strafe an, dass ich hier allein zwischen vielen anderen Blättern, die von anderen Bäumen stammen, herumliegen muss und nur hoffen kann, dass mich ein Windstoß in die richtige Richtung treibt.

Einsam und ausgestoßen

Welches ist denn die „richtige Richtung“? Wohin will ich überhaupt? Ich fühle mich einsam, abgeschnitten, ausgestoßen und schlecht. Was habe ich angestellt, dass ich so hilflos da liege und auf Windstöße warte, die mich – vielleicht, vielleicht – ein Stückchen in eine gute Richtung bringen? Das freie Fliegen gefällt mir, aber es hilft nichts gegen die Traurigkeit, meine Nachbarblätter verloren zu haben.

„He Was Despised“ (Er wurde verachtet), eine Arie aus Händels Oratorium Messiah, habe ich vor ein paar Jahren gesungen. Habe ich damals überhaupt gewusst, was ich gesungen habe? Ja, ich habe es gefühlt, denn ich war jedes Mal sehr ergriffen, von der Dramatik und der Traurigkeit des Stückes. Damals hielt ich selbst noch am Baum fest. Ich sah und fühlte die Blätter, die mit mir verwandt waren, neben mir. Sie gaben mir eine Stütze und der, der „ausgestoßen“ war, als ich die Arie sang, war ausschließlich Christus am Weg zur Kreuzigung.

Sich führen zu lassen ist gar nicht so einfach

Heute erkenne ich mich selbst darin. Ich fühle mich genauso bespuckt und verhöhnt. Ich erlebe es jetzt selbst. Sollte es mich nicht trösten, wenn so ein großer Meister diesen Weg voraus gegangen ist? Meine Beziehung zu Jesus ist innig – seit meiner Kindheit. Jetzt ist er nicht mehr der Mensch, der verleumdet und beleidigt wird. In einer Vision vor über 10 Jahren flog ich mit Jesus, der mich an der Hand hielt, über malerische Landschaften und Dörfer. Er sagte zu mir: „Lass dich führen“, und es fühlte sich gut an.

Doch jetzt bin ich das Blatt, das im Wind herumgewirbelt wird und überhaupt keine Führung mehr fühlt. Ein Windstoß kommt aus irgendeiner Richtung und trägt mich ein Stück in die eine oder andere Richtung. Das soll eine göttliche Führung sein? Ich verzweifle an mir selbst und an der Situation.

Verachtet zu werden ist ekelhaft

Bis mir wieder die Arie aus dem Messiah von Händel einfällt. „Er wurde verachtet“, habe ich gesungen. Dieser Gedanke hat etwas Tröstliches an sich. Ich weiß, dass ich genau diese Arie vor so langer Zeit nicht umsonst gesungen habe. Wenn jemand ausgestoßen und verhöhnt wird, dann darf er oder sie sich auch so fühlen. Dann muss ich nicht „über den Dingen stehen“ und jederzeit glücklich sein. Nein, es fühlt sich wirklich ekelhaft an. Punkt.

Zu akzeptieren, dass Dinge so sind, wie sie sind – auch Gefühle, die mein Körper erzeugt hat – ist eine große Lernaufgabe. Aber es lohnt sich. Erkennen, wahrnehmen, akzeptieren. So kommt man zu einer Bewusstheit, vor der man keine Angst mehr haben muss. Plötzlich ist alles so gut, wie es ist. Ich muss gar nichts mehr verdrängen. Denn ich lebe. Alles, was ich erlebe, gehört zu meinem Leben dazu. Ich bin wach und beobachte.

Ich bin neugierig und erfahre meine Gefühle und noch viel mehr. Plötzlich ist alles in meinem Leben sinnvoll. Ich erkenne Muster und Begebenheiten, die teilweise schon viele Jahre zurückliegen und doch noch heute auf mein Leben Einfluss haben. Vor allem, wenn ich die Botschaft dahinter erkenne. Manchmal erschrecke ich richtig, wenn mir so eine Nachricht klar wird. In so einem Moment fühle ich, dass ich doch nicht das halb tote Blatt bin, das im Herbst vom Baum gefallen ist und irgendwohin verblasen wird.

Die Göttliche Ordnung

Nein, da steckt jemand dahinter, der dafür sorgt, dass alles seine Ordnung hat. Nichts geschieht ohne Grund. Und nichts geschieht, um mir zu schaden. Hinter allem, was passiert – auch wenn ich es im Moment noch nicht verstehe – liegt eine liebevolle Kraft verborgen. Ich bin eben doch nicht allein unterwegs, auch wenn es für mich manchmal so aussieht. Um das zu erkennen, muss ich nur etwas besser hinsehen. Es lässt sich auch mit meinen menschlichen Sinnen erkennen, wenn ich aufmerksam bin.

Ich bin eben doch kein herumliegendes Herbstblatt, das durch zufällige Windstöße irgendwohin getragen wird. Im Universum herrscht Ordnung. Hinter jeder Begebenheit steckt Liebe. Diese Liebe fällt nicht dem einen zu und dem andern nicht. Für unsere fünf Sinne ist sie nicht so einfach zu erkennen, aber sie ist immer da – beschützend sorgt sie dafür, dass alles seine Ordnung hat und behält. Dieser Gedanke gibt Sicherheit.

 

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