Wir schreiben den 16. März….. Was fällt mir ein? Warum formuliere ich das Datum so komisch? Es ist eine alte Ausdrucksweise der Schreiber in früheren Zeiten. Wir schreiben das Jahr….

So wurden Aufzeichnungen früher angefertigt. Ich sehe mich in einer Schreibstube sitzen. Was ist eine Schreibstube? Still, ihr hinterfragenden Gedanken! Ich bin der Schreiber. Der, der in eine Chronik schreibt. Mit einer großen Feder, die ich immer wieder in ein Tintenfass tauche. Es ist meine Aufgabe zu schreiben, denn ich kann das und wurde dafür abgestellt. Ich tue es gern und ich weiß, wie es geht. Wir schreiben das Jahr….Mit geschwungenen Buchstaben trage ich ein, was ich eintragen soll.

Eine Chronik entsteht

Es ist etwas Wichtiges vorgefallen. Das muss aufgeschrieben werden. Ich will es gern aufschreiben, denn ich weiß, dass es später einmal für andere Menschen zur Verfügung stehen soll. Ich beherrsche die Kunst des Schreibens und des Formulierens und ich liebe das. Die Wichtigkeit meiner Tätigkeit ist mir bewusst. Gern würde ich aus meinem Herzen schreiben, aber meine eigenen Worte unterliegen meiner Zensur. Es ist eine Chronik. Hier wird eingetragen, wer gestorben ist oder was sich sonst verändert hat.

Ich liebe es, die Buchstaben auf das riesige Papier zu malen. Das Buch ist dick, die Seiten groß, meine Buchstaben und Worte passen dazu. Schon Vieles wurde in die Chronik geschrieben. Jetzt schreibe ich das, was mir aufgetragen wurde. Niemals kann dieses Schreiben Routine sein. Im Gegenteil, es hat etwas Wichtiges, beinahe Magisches an sich, in dieses große Buch zu schreiben. Die Tinte gelangt jedes Mal ein wenig anders auf das Papier, auch wenn die Form der Buchstaben begrenzt ist. Manchmal zerfließt sie, wird breiter, manchmal entsteht ein dünner Strich.

Doch ich kann damit umgehen und abschätzen, wie die äußere Form der Buchstaben aussehen wird. Die Buchstaben werden zu Worten, die Worte zu Sätzen. Die Sätze, die ich schreibe, haben es in sich. Ich schreibe wichtige Veränderungen nieder. Für diese Veränderungen bin ich nicht verantwortlich, aber ich bin beauftragt, sie nieder zu schreiben.

Schreiber und Schreiberin

Ich schreibe deutsch, nicht Latein. Komisch. Jetzt frage ich nicht mehr weiter. Wer hat denn vor so langer Zeit schon in deutscher Sprache in eine Chronik geschrieben? Gab es damals „deutsch“ überhaupt schon?

Jetzt gehe ich aus meinen Fantasiegeschichte einmal heraus. Mein Verstand hat sich eingeschalten und meint, dass bei meiner Erzählung vorn und hinten nichts zusammen passt. Gut. War ja nur ein Gedanke, der mir durch den Kopf gegangen ist. Aber ich fühle, dass ich ein Schreiber – eine Schreiberin bin. Hier und jetzt. Ich fühle das Gewicht der Worte und die vielen Möglichkeiten, die in ihnen stecken. Auch der Ausdruck, der in Worten und sogar einzelnen Buchstaben steckt, teilt sich mir über das Gefühl mit.

Worte als Teil eines Buches

Worte können Neues erschließen und Altes beenden. Sie sind niemals „nichts“, auch wenn es viele sogenannte „Belanglosigkeiten“ gibt, die schon aufgeschrieben wurden. Mit Tinte in ein dickes Buch zu schreiben, hat wohl mehr Gewicht als auf einer Tastatur Buchstaben in einen Computer einzugeben? Ich fühle eine Traurigkeit aufsteigen und weiß nicht worüber ich traurig bin. Ich sehe immer noch das dicke, große Buch vor mir, in dem ich schreibe.

Eine Chronik zu verfassen, hieß ein Buch zu schreiben, an dem ein Autor von einem anderen abgewechselt wurde. Als Schreiber war man für seinen Teil des Buches verantwortlich. Man wurde aber auch zu einem Teil des Buches. Ein Teil von mir steckt in diesem Buch. So wie auch ein Teil von mir in diesen – zugegeben verwirrenden – Zeilen steckt.

Schreiben als Ausdruck von Erfahrung

Schreiben mit Tinte. Das tue ich heute noch gern. Ich besitze eine alte Füllfeder, die noch mit Tinte aus dem Tintenfass befüllt wird. Sie kratzt ganz sanft und leise über das Papier. Das erweckt gute Gefühle in mir. Schreiber waren früher angesehen. Heute sitzen wir da und hämmern Buchstaben, Worte und Sätze in den Computer. Danach speichern wir unsere „Chronik“ ab. Sie verschwindet in der Unendlichkeit der Daten. Niemand wird sie jemals finden, wenn ich sie nicht ans Tageslicht bringe. Und warum sollte ich das tun? Weil ich den Eindruck habe, dass meine Gedanken andere Menschen weiter bringen könnte auf ihrem Weg? Ja, warum nicht? Auch ich liebe es, Erfahrungen anderer Menschen zu hören oder zu lesen. Dadurch werden sie zu einem kleinen Stück meine eigene Erfahrung – wenn ich sie mit dem, was ich erlebt habe, abgleiche.

Warum wurden Chroniken überhaupt geschrieben? Vielleicht sollte ich meine Freundin, die Mittelalterforscherin ist, fragen. Einige dieser Chroniken sind wohl entdeckt worden, andere sind der Vergänglichkeit zum Opfer gefallen. Wer denkt heute noch an die Person dahinter, die diese Worte aufgeschrieben hat? Nur derjenige, der sich damit identifizieren kann. Ich kann das. Für mich ist es, als wäre dieser „Schreiber“ ein Teil meiner Identität. Meiner heutigen Identität. In dem Moment, wo ich schreibe, also jetzt, kann ich den Schreiber von damals fühlen.

Schreiben als Lebensaufgabe

Nein, es ist keine Vision, was ich über den Schreiber im Mittelalter geschrieben habe. Es ist „nur“ ein Gefühl. Doch ich kann nicht beschreiben, was für ein tiefes Gefühl es ist, das sich hundertprozentig richtig und gut anfühlt. Für mich ist es eine Erkenntnis und eine Verbindung zu mir selbst, die ich heute hergestellt habe. Ich wertschätze diesen Menschen in der „Schreibstube“, der da sitzt und mit voller Hingabe schreibt. Es ist richtig, wichtig und gut, was er da tut.

Im Umkehrschluss darf ich ganz vorsichtig fragen, ob nicht auch richtig, wichtig und gut ist, was ich hier schreibe? Beinahe fühle ich, dass mir der Schreiber aus dem Mittelalter zulächelt. Er will mir Mut machen. Was richtig, wichtig und gut ist, bestimmen nicht die Menschen auf der Erde. Es wird durch das Gefühl bestimmt. Das Gefühl, etwas Richtiges, Wichtiges und Gutes zu tun. Es gibt nichts anderes.

Eure

Ranjana

 

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